BIOGRAPHIE

Philip Baldwin / Monica Guggisberg


Philip Baldwin und Monica Guggisberg (geb. 1947 in New York City, USA und 1955 in Bern, Schweiz) besitzen die seltene Gabe, die Komplexität der Dinge, mit denen sie zu tun haben, auf das Einfachste herunterbrechen zu können, ohne an Tiefe zu verlieren. Im Gegenteil: Sie schaffen so Freiräume, die die Betrachter ihrer Werke mit eigenen Gedanken füllen können. Das betrifft auch das eigene Nachdenken über ihre Arbeit, in dem sie zu einer verständlichen, einfachen Sprache finden, und das die beiden in Gesprächen und eigenen Texten teilen. Der Kern ihrer Arbeit ist das Handwerk. Die sich wiederholenden, repetitiven Tätigkeiten nehmen sie dabei nicht als monotone Belastung wahr, sondern als „eine ästhetische Form des Lernens: eine Art Yoga“, bei dem die manuellen Fähigkeiten geschult und das Verständnis und das Bewusstsein des eigenen Tuns vertieft werden. Im Lauf der Jahre wurde die Verbindung schwedischer Überfangtechniken und venezianischer Kaltbearbeitung geradezu zu einer Signatur für die beiden Künstler, denen aber klar ist, dass das „Werkzeug niemals der Ausdruck selber ist. Es ist nicht die Technik, die spricht“, sondern es sind Farbe, Licht, Texturen, Muster und Formen, die Bedeutung annehmen können. Am Beginn ihrer Karriere stand die Herstellung von funktionalem Tischgerät wie Tellern, Schalen und Trinkgläsern, die sie in Kleinserien produzierten. Sie orientierten sich ästhetisch an einem schlichten Funktionalismus und kamen schon bald zur Zusammenarbeit mit bedeutenden Designhäusern wie Rosenthal oder Steuben, später auch mit Venini (zu dieser Kooperation siehe den Eintrag Venini). Schönheit, die sie in Harmonie, in der Klarheit von Form und Linie und dem Gebrauch von Farbe finden, steht dabei im Mittelpunkt.

Diese Grundsätze gelten auch für Einzelstücke, an denen sie parallel zu arbeiten begannen. Deren Herkunft aus dem Bereich der Teller und Gefäße ist immer eindeutig erkennbar. Durch Dekore, dann auch durch installationsartige Aufbauten, Zusammenstellungen und Präsentationen und zuletzt mit ihren Titeln sind sie auf Inhalte bezogen. Zunächst waren diese Inhalte noch recht allgemein gehalten. „Sollte es in unserem Schaffen eine soziale oder politische Komponente geben, so dürfte sie mit der Suche nach Schlichtheit und Klarheit, Harmonie und Ausgewogenheit in einer Welt des Chaos und der Vielschichtigkeit zusammenhängen.” Mit der stetigen Weiterentwicklung des Werks erhielten diese Inhalte zunehmend allgemein kulturgeschichtliche und biografische Komponenten und wurden zudem immer deutlicher formuliert. Zuletzt fanden Baldwin und Guggisberg vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlings- und Migrationsströme und dem Erstarken von Nationalismen weltweit erstmals zu einer bewusst formulierten politischen Ausrichtung. „Under an equal Sky“ ist der Titel, mit dem sie 2018 zehn Installationen in der Canterbury Cathedral zusammenbanden. Durch ihre Arbeiten luden sie auf der Basis des ersten Paragraphen der Charta der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ zum Nachdenken darüber ein, wieweit dieser Anspruch und die Wirklichkeit auseinanderklaffen und wie wir zukünftig als Weltgemeinschaft leben wollen. Zentrale Aussagen der beiden dazu lauten: „Wir sind alle Migranten“ und schon einige Jahre zuvor: „Wir sind Kreaturen der Migration. Die Geschichte unserer Spezies handelt von Reisen, Abfahrten, Verlassen und Ankommen, von Neuanfängen“, sowie: „Die kulturelle Vielfalt unserer Welt sollte als Bereicherung wahrgenommen werden, als ein Reichtum.“

Kreaturen der Migration, das sind auch Baldwin und Guggisberg. Er ein Amerikaner und sie eine Schweizerin mit teils italienischen Wurzeln trafen sich Ende der 1970er Jahre in Schweden als Schüler der Orrefors Glasschule. Als Assistenten des Schweden Wilke Adolfsson und der Deutschen Ann Wärff verfeinerten sie ihre Fähigkeiten und lernten, ein eigenes Studio zu betreiben. Das eröffneten sie 1982 in Nonfoux in der französischen Schweiz. Später gingen sie nach Paris und vor einigen Jahren zurück aufs Land, auf eine einzeln gelegene Farm in Wales. Neben der Designarbeit begannen sie in den 1980er Jahren in Nonfoux auch mit der Anfertigung von Einzelstücken. Meist waren das Schalen und Teller mit mehreren Farbschichten. Durch Sandstrahlen sind Schichten entfernt und Dekorationen definiert: konstruktivistisch anmutende geometrischen Linienmuster, Rechtecke, Dreiecke, Kreise, Kreuze und Sprialmuster. In der Rückschau stellten Baldwin und Guggisberg nach der Lektüre eines Buchs erst fest, dass es sich um Grundsymbole handelt, die in allen Kulturen seit Beginn der Menschheit vorkommen. „Diese Symbole stellen Hauptaspekte des menschlichen Lebens dar. Das Quadrat verweist auf Stabilität und Solidarität, der Kreis auf den Erdglobus, das Universum und das All, das Dreieck auf Ziele, Träume und Sehnsüchte des Lebens, das Kreuz auf unsere Beziehungen, Verbindungen und Zugehörigkeiten, die Spirale schließlich auf unser durch Wachstum, Wandel und Entwicklung bestimmtes Schicksal.“ In ihrer Suche nach klaren, einfachen Formen und Harmonie stießen sie unbewusst auf diese Ursymbole. Sie sehen hier verborgene, tiefgründige Verbindungen zwischen Menschen, Zeiten und Kulturen. Die Haltung, die in den Installationen von „Under an equal Sky“ offene Formen annimmt, ist schon von Beginn an vorhanden, wenn auch nicht explizit formuliert.

In den 1990er Jahren gab es einen deutlichen Entwicklungsschub. Baldwin und Guggisberg hatten sich schon länger für das venezianische Glas interessiert und wollten sich dessen Eigenarten nähern. Der bedeutende Maestro Lino Tagliapiertra kam mehrfach nach Nonfoux und führte sie in die besonderen Arbeitstechniken ein. Er stellte auch den Kontakt zu Paolo Ferro her, einem etablierten Glasschleifer in der Lagunenstadt. Die Zusammenarbeit führte zu einer einzigartigen Formensprache: Die von Baldwin und Guggisberg genutzte schwedische Überfangtechnik, die dort vor allem für die Produktion von dickwandigen Graal-Arbeiten Anwendung findet, verbanden sie nun mit dem hammerschlagartig wirkenden Battuto-Schliff und den tiefgreifenden Inciso-Schraffuren, die in Venedig seit den 1930er Jahren vor allem durch Carlo Scarpa für die Oberflächengestaltung monochromer Gefäße eingesetzt wurden. Das Resultat sind tiefgreifende Texturen und atemberaubende Farbmuster, wie es sie vorher nicht gab. Die Formen orientierten sich weiterhin an klaren Linien, wurden nun aber auch lang gestreckt oder gestaucht. Vasenpaare erinnern entfernt an die Gestalt von Männern und Frauen. An zentraler Stellen standen jetzt solche Gefäße, die auf Metallstäbe montiert sind und mit einer Gesamtgröße von Menschengestalt und darüber hinaus skulpturale Form annehmen. Sie können einzeln für sich stehen, aber auch in Installationen in Gruppen angeordnet sein. Eine Werkgruppe trägt den Titel „Sentinels and Watchers“ (Schildwachen und Beoachter), eine zweite heißt „Cortigiane and Guardiani“ (Kurtisanen und Wächter). Die erste Gruppe stellt für Baldwin und Guggisberg eine Art Verkörperung des Gewissens dar. Sie sind sichtbar gewordene Helfer, die ein „geschärftes Bewusstsein [fördern] und sich als wichtige Verbündete im Leben erweisen“. Ihnen gegenüber stehen die „Kurtisanen“ und „Wächter“ als Verkörperung der Menschen mit ihren sich widersprechenden Eigenschaften, all ihren Stärken und Schwächen. Mit der zweiten Gruppe lösen sich Baldwin und Guggisberg von ihren strengen formalen Vorgaben und führen ihre Studien zu Farbe, Textur, Oberflächendekor und Form freier fort. Inhaltlich gesehen bedeuten sie im Ausloten menschlicher Eitelkeiten und Extravaganzen einen kleinen Spass „für so sachliche Leute wir“ es sind.

Die hier entfaltete skulpturale Sprache entwickelten Baldwin und Guggisberg kontinuierlich weiter und erschlossen sich mit ihr neue inhaltliche Felder. Die Wandungen von Vasen nutzen sie zum Beispiel, um den Rhythmus des Urbanen und den Wildwuchs des Natürlichen zu reflektieren oder mit rein abstrakt-geometrischen Formen und Farben zu spielen. Das universale Symbol des Kreises wuchs zu einer Kugel, einer Sphäre: auf Metallstäbe montiert, entstanden große, frei stehende Skulpturen, die fantasievoll an Modelle erinnern, die im Großen die Laufbahnen von Planeten und im Kleinen, wie bei der Doppelhelix der DNA, den Aufbau von Molekühlketten visualisieren. Hier werden die Kräfte gefeiert, die die Welt zusammenhalten und bewegen: „Von Sphäre zu Sphäre erzählt jedes Element seine Geschichte wie im Zusammenklang einer Musikpartitur. Das Ganze soll die Betrachter durch das Spiel der skulpturalen Form von Licht und Farbe erfreuen und zum Lachen bringen.“ Mit dem Boot kam ein neues Symbolelement hinzu. Eine schlichte Bootsform aus Metall oder Holz trägt mundgeblasene und geschliffene Amphoren, Flaschen und andere Gefäße. Das Boot ist auf zahlreichen Ebenen ein starkes Symbol, das physisch für den Transport von Menschen und Waren steht, das als Metapher für den Lebensweg des Menschen von der Wiege bis zur Bahre, dieser Reise voller Scheitern und Neuanfängen, stehen kann, genauso wie für die innere Reise der Fantasie. Die Glasobjekte in den Booten können sowohl als Transportgefäße gesehen werden als auch wie die „Cortigiane“ und „Guardiani“ als Verkörperung von Menschen, von der Besatzung dieser Boote. Mal wirken sie uniform und sind bei genauem Hinsehen doch alle individuell und mal spiegeln sie anscheinend die Diversität der gesamten Menschheit. Die Boote können eine handliche Größe von einem Meter haben, mit neun Metern den Raum füllen und wie bei der Hauptarbeit für „Under an Equal Sky“, wo 100 von der Raumdecke abgehängte gläserne Amphoren den Rumpf des „Boat of Remembrance“ bilden, mit 30 Metern monumentale Ausmaße annehmen. Individuelle und allgemein kulturhistorische Zugänge zu unserer kollektiven historischen Erfahrung werden hier miteinander verschränkt und die zeitlichen Perspektiven von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander bezogen. Weitere Werkgruppen sind „Mobiles“ und „Rahmen“. Bei den „Mobiles“ sind es oft die bereits von den Schalen und Tellern der Anfangsjahre bekannten fünf Grundsymbole, die, in Glas ausgeführt, von Metallgestängen im Raum balanciert werden. Sie sind ein höchst poetischer Ausdruck für die stets gefährdete, prekäre Balance des Lebens. In die „Rahmen“ sind Gefäße mit ikonischen und antiken Formen montiert. Mit ihnen wird einerseits das Verhältnis von Form und Skulptur reflektiert und andererseits stehen sie für die Suche von Baldwin und Guggisberg nach neuen Horizonten und dem Unerwarteten.

2016, bald nach ihrem Umzug nach Wales, bekamen Baldwin und Guggisberg die Gelegenheit, ihre Arbeit im Rahmen des Edinburgh Festivals in der St. Mary’s Cathedral zu zeigen. Stücke aus allen wesentlichen Werkgruppen waren hier mit einem Bezug auf die Architektur der Kirche installationsartig präsentiert. In einem Interview im Zusammenhang mit dieser Ausstellung betont Baldwin noch, dass sie „im Allgemeinen kein politisches Statement abgeben“ wollen. Eine Ausnahme in Edinburgh wäre jedoch „Yesterday, Today, Tomorrow“: drei gleiche Virtinen, von denen die erste Sand und eine Schicht Glasscherben als Blick in die Vergangenheit enthält, deren zweite völlig mit unterschiedlichsten mundgeblasenen Gefäßen in vielen Farben und Dekoren gefüllt die Vielfalt der Gegenwart aufzeigt und als drittes weiße Styropor-Flakes Träume und Hoffen auf unsere Zukunft verkörpern. Die Künstler sahen sich veranlasst, hier ein Zeichen zu setzen, weil sie immer deutlicher wahrnahmen, wie zunehmender Migrationsdruck und sich abschottender Nationalismus den Blick auf die Welt verändern. Dem Symbol des Bootes, der 2010 begonnenen Werkgruppe, das zunächst nur mit positiven Konnotationen verbunden war, hatten sich neue Bedeutungsebenen hinzugesellt: der Angst und der Tragödie. Unter dem Einfluss dieser gesellschaftlichen Vorgänge entwickelte sich der eigentliche Kern einer Präsentation zum 100. Jahrestages des Endes des Ersten Weltkriegs in der Canterbury Cathedral 2018 zu einer Art Kreuzgang, an dessen zehn Stationen zum Nachdenken über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit eingeladen wird. Die einzelnen Installationen in der Kathedrale entsprechen wieder im Wesentlichen einzelnen Werkgruppen von Baldwin und Guggisberg. Sie sind bewusst thematisch auf ihre Aufstellungsorte in der Kathedrale bezogen und ebenfalls sehr bewusst in einen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt, in dessen Mittelpunkt die Frage steht, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen.

Seit 40 Jahren arbeiten Philip Baldwin und Monica Guggisberg als ein Team. Sie entwickeln ihr Werk gemeinsam, als würde es von einer Person allein stammen. Formal sprechen sie von der Arbeit mit einfachen, klaren Formen. Sie wissen dabei um die zahllosen Traditionen, in denen sie dabei bewusst und unbewusst stehen. Aus der Suche nach einem eigenen Ausdruck „für die grundlegenden Symbole unserer Welt […], für universelle Ideen und Bedeutungen“ fanden sie zu ihrer unverwechselbaren Formensprache und ihren Inhalten, die sie nicht als eindeutige Botschaften vermitteln, sondern als Erfahrungsräume, die zu Kontemplation und Reflektion einladen. Über Jahre hinweg konnten sie diese archetypische Sprache und ihre Inhalte lebendig weiterentwickeln und ihrem Werk so eine große innere Intensität verleihen. Das Handwerkliche ist für sie dabei von erheblicher Bedeutung, genauso wie Schönheit und Harmonie. Alles drei sind Dimensionen, die in der von Konzepten geprägten zeitgenössischen Kunst keine Rolle zu spielen scheinen. Und dennoch ist es Baldwin und Guggisberg gelungen, einen eigenständigen Platz in der Kunstwelt einzunehmen. Die weit verbreiteten Vorstellung von einer Trennung von Handwerk, Design und Kunst als unterschiedliche Qualitäten hält Philip Baldwin für überholt: „Die Trennlinien sind traditionsbasiert und habituell. […], aber Traditionen und Habitus sterben nur langsam. […] Kultur liebt Kodifizierungen und es ist schwer, sie hinter sich zu lassen.“ Wichtig sei der offene Blick auf die talentierte Ausführung einer originalen Idee. Die wesentlichen Kriterien für die Beurteilung kreativer Arbeit sieht er in den Fragen: „Was bewegt? Was ist erhebend? Was ist inspirierend? Was ist original? Was berührt unsere Seele?“ Größe zeigt sich auch hier einmal wieder in der Fähigkeit zum Klaren und Einfachen, sowohl in den Gedanken als auch im Handeln.
Uwe Claassen

Achilles-Stiftung