BIOGRAPHIE

Anja Isphording


Innere Ruhe ist die eine Grundlage für das künstlerische Werk von Anja Isphording (geb. 1964 in Hilden, Deutschland, lebt in Vancouver, Kanada) . Unabdingbar ist diese Ruhe für die kleinteilige, teils wochenlange Arbeit an den Wachsmodellen ihrer Skulpturen, die dann in Glas umgesetzt werden. Die zweite Basis ist die Naturbeobachtung. Isphording setzt sie nicht wortwörtlich, eins zu eins naturalistisch um, sondern sie dient ihr zur freien Assoziation, aus der heraus Gebilde entstehen, die wie natürlich entstanden wirken, es aber nicht sind. „Ihre Arbeiten erwecken einerseits den Eindruck von Vertrautheit und Identität. Andererseits entziehen sie sich einer eindeutigen biologischen Bestimmung“ (Höller 2001: 19). Deutlich wird diese Arbeitsweise unter anderem auch dadurch, dass Isphording ihren Skulpturen keine Namen gibt. Sie tragen seit 1997, seit die Künstlerin mit Pâte-de-verre-Techniken arbeitet, nur noch eine fortlaufende Nummer. Keine Assoziation wird vorgegeben, Betrachter sind in ihrer Entdeckungslust und Imaginationskraft frei sich selbst überlassen. Mit Worten Tom Buechners wird ersichtlich, wie sehr Isphordings Arbeiten dazu anregen, entdeckt zu werden: „Ich möchte dieses Stück mit meinen Händen umschließen und die Unregelmäßigkeiten all dieser Beulen fühlen. Welche Geheimnisse es suggeriert! Warum hört die Farbe kurz vor dem Hals auf? Was sind diese purpurfarbenen Kiesel? Wo führt dieser spitz zulaufende Zylinder hin?“ (Buechner 1999: 76). Unzählige Bänder, Stege, Lammellen, Schuppen, Plättchen und Blättchen, Zapfen, Körner, Kügelchen und schwappende Wellen bilden ein Geflecht oder sind reliefartig herausgearbeitet. Diese Skulpturen schließen an der Flora und Fauna auf der Erde und unter dem Wasserspiegel an, an Blütenkelchen, Zapfen von Nadelbäumen, Seeannemonen, Korallen, geschichteten Muscheln oder dem Wellenspiel des Wassers. „Sie haben eine Weichheit, das innere Licht, Texturen und Wärme, die die wahre Magie von Glas sind“ (Oldknow 2004: 54. Die Arbeit von Anja Isphording bedeutet eine Abkehr von formal geprägter intellektueller Abstraktion. Positiv formuliert: Im Zentrum steht die Hinwendung zu einer sensitiven Wahrnehmung und Erforschung der Welt, deren Ergebnisse pure Poesie mit visuellen Mitteln sind.

Anja Isphording entstammt einer Familie, in der Kunst kein Fremdwort ist. Ihre Mutter hatte Ende der 1950er Jahre in Düsseldorf Kunst studiert, die eigene Karriere zugunsten einer immer größer werdenden Familie aber nicht verfolgt. Erst nach dem Großwerden der Kinder begann sie wieder künstlerisch zu arbeiten, mit Ton und Holz, nur für sich, ohne Ausstellungsbetrieb. Isphording sieht sie als einziges „echtes Vorbild“ für die eigene Arbeit: „Der Arbeitsprozess war ihr genauso wichtig wie das Ergebnis, ich glaube, das Arbeiten an ihren Stücken war für meine Mutter beruhigend und beglückend“ (Isphording 2021). Hier sind Aspekte angesprochen, die auch für das Werk der Tochter zu gelten scheinen. Anja Isphording absolvierte von 1983 bis 1986 an der Berufsfachschule in Zwiesel eine Ausbildung als Glasgraveurin und im Anschluss bis 1988 als Glasgestalterin an der Staatlichen Glasfachschule ebenfalls in Zwiesel unter Franz Xaver Höller. Schon früh fand ihre Arbeit Aufmerksamkeit: 1986 wurde sie 1. Bundessiegerin im Leistungswettbewerb der Handwerksjugend und 1988 wurde erstmals eine Arbeit der jungen Fachschulabsolventin vom New Glass Review des Corning Museum of Glass aufgenommen. Diese jährliche, weltweite Ausschreibung ist auf Innovationen in der künstlerischen Arbeit mit Glas ausgerichtet. Bis 2010 wurde Isphording diese Auszeichnung noch weitere neun Mal zuteil, was ihre Entwicklungsfähigkeit klar aufzeigt – obwohl der Kern ihrer heutigen Arbeit, die assoziative Umsetzung von Natureindrücken, bereits am Anfang angelegt war und immer Bestand hatte.

Bis in die 1990er Jahre hinein nutzte Isphording zumeist eingekaufte mundgeblasene Kristallglasrohlinge, Vasen, Schalen und Teller, die sie durch vielfältigste Techniken kalt bearbeitete: mit Gravur, Sandstrahlen, Emailbemalungen, Goldauflagen und dem Besatz mit weiteren Materialien wie Kupferbändern oder Perlen. Manche dieser Arbeiten wirken wie archaische Urnen mit abstrakt-linearen Dekoren. Die Wandungen der meisten Gefäße sind jedoch mit aus dem Fundus der Natur inspirierten Motiven versehen, von Fischschwärmen, an Felsen hängenden Fledermäusen, Schlangenhäuten, Spinnweben und immer wieder von vegetabilen Formen. Im Zusammenhang mit der Verleihung des Bayerischen Staatspreises 1993 hebt Peter Nickl „die Experimentierlust und auch die Freude am Wagnis, die den Arbeiten Anja Isphordings Kraft und Frische geben“ (Portrait der Meister 1994: o.S.) hervor. Isphording war mit ihnen aber nicht restlos glücklich. Sie wollte unabhängig von den eingekauften Rohlingen werden, „ein Stück selbst bestimmen von Anfang bis Ende“ (Isphording in Materials Revisited 2011: 56). Zudem bedeutete das Arbeiten mit den Gefäßrohlingen eine Einschränkung: nämlich die Nutzung der Glaswand analog zu einer Leinwand (vgl. Mitsching 1996) und damit die Festlegung auf ein zweidimensionales Format. Isphordings Motive scheinen aber aus der Fläche heraus zu brechen, sie streben ins Dreidimensionale. Die 90er Jahre wurden eine Zeit der Neuorientierung. Ein Stipendium ermöglichte es der Künstlerin 1993 bis 94 zwei Semester an Akademie für Kunst, Architektur und Design in Prag zu studieren. An der für ihre Glasausbildung weltberühmten Einrichtung malte und zeichnete Isphording viel. Ihre Jahresarbeit war komplett glasfrei. In der Folge begann sie flache Glaspaneele zu bemalen und mit Rahmenwerken installationsartig aufzubauen oder kleine bemalte Glasplättchen mit Drähten zu verbinden und in der freien Natur auszulegen. Eine dieser Arbeiten, „Haut“, brachte ihr 1995 den Förderpreis der Jutta Cuny-Frantz Foundation. Es waren Arbeiten, mit denen sie eine Idee oder Aussage gezielt künstlerisch umsetzen wollte. „Ich habe mich mit diesen Arbeiten aber nicht wohl gefühlt, zum Teil kamen sie mir zu gewollt vor, nicht wirklich meine“ (Isphording 2021).

Den Durchbruch brachten dann Arbeiten, die in Formschmelztechniken gefertigt sind. Bereits am Ende ihrer Ausbildung zur Glasgestalterin gab es an der Glasfachschule in Zwiesel erste Versuche mit dieser Technik, jedoch „mit sehr begrenztem Erfolg“ (Isphording 2021). Neben der Arbeit mit den Gefäßen und den Installationen experimentierte Isphording mithilfe des Ofens, den ihre Mutter eigentlich für Keramiken nutzen wollte, weiter mit Pâte-de-verre-Techniken, leider ebenfalls ohne Erfolg, weil keine ausreichenden Kenntnisse und Erfahrungen zu Materialien für den Formenbau, geeigneten Gläsern und Schmelzkurven vorhanden waren. Während eines dreimonatigen Arbeitsaufenthalts 1995 am Creative Glass Center of America in Wheaton Village NJ, USA stellte der Leiter des Programms ihr nach erneuten Fehlversuchen optisches Glas von Schott zur Verfügung und es gelangen die ersten erfolgreichen Arbeiten mit dieser Technik. Aus dem Jahr 1997 stammen die ersten formgeschmolzenen Arbeiten, die Isphording öffentlich präsentierte und mit ihnen kam die Eigenart auf, sie ohne Titel nur durchzunummerieren. Diese ersten Stücke waren noch detailarm und in der Grundform am Gefäß orientiert. Ihnen merkt man noch ein Hineintasten ins Dreidimensionale und die neuen Techniken an, so wie bei der # 1, die mit zahlreichen Tentakeln sich vorsichtig ihr Umfeld zu ertasten scheint. Und doch fanden Stücke dieser neuen Werkphase unmittelbar über mehrere Jahre hinweg die Aufnahme in den New Glass Review. Mit der Zeit wurden sie immer detailierter. Gravuren, Mattierungen und Polituren setzen Akzente oder schaffen Strukturen. Die Wände sind mit lamellenartigen Strukturen besetzt oder schließen am oberen Rand mit wild bewegten Tentakeln wie von Seeannemonen ab. Die Ränder können durchbrochen sein, wie bei der # 115, inspiriert vom Element Wasser. Und dann geht die Gefäßform völlig verloren und wird ersetzt durch geflechtartig verwachsene und wuchernde Strukturen, die sich in großer Farbenpracht im Wind oder den Strömungen des Wassers zu wiegen scheinen. Ging der Arbeitsprozess zunächst von der Naturbeobachtung über ein assoziatives Zeichnen zur Formung des Wachsmodells, so kürzt Isphording diesen Weg inzwischen ab und beginnt häufig gleich mit der freien plastischen Arbeit. Die vielen Details der Wachsmodelle erfordern höchste Konzentration und genauestes Arbeiten für die Umsetzung der gestalterischen Vorstellungen wie für konstruktive Zusammenhänge, denn jede noch so kleine Verbindung muss mit Wachs abgedichtet werden damit beim Einschlemmen mit der Formmasse nichts hineinlaufen kann, weil das Stück nach der Glasschmelze sonst instabil sein würde. Ganz langsam wachsen diese Skulpturen in einer Zwiesprache aus genauer Naturbeobachtung und assoziativer Interpretation. Bei dem hier getriebenen Aufwand ist es kein Wunder, dass Isphording jedes Jahr nur wenige Stücke realisieren kann und sie im Frühjahr 2021, nach über 20 Jahren, erst bei der # 181 angelangt ist. Schon sehr früh hat sie eine eigene, sofort erkennbare Formensprache entwickeln können, die sie im Lauf der Jahre und über unterschiedliche Werkphasen hinweg weiterentwickeln und auf eine Weise reifen lassen konnte, die jugendliche Frische bewahrt hat. Trotz der zunehmenden Farbenpracht wirken diese Arbeiten nicht laut und bloß bunt, „[…] auch das Plakative ist ihnen fremd. Im Gegenteil liegen ihre Stärken in der Selbstbehauptung und in einem Innehalten in einer dahinrasenden Zeit“ (Höller 2001:19). John Drury, selber mit Glas arbeitender Künstler und Autor, spricht von “Isphordings Vision von Ewigkeit und Wunder” (Drury 2011: 19).
Uwe Claassen, 4/2021

Literatur:

Tom Buechner: Jury Statements. In: Neues Glass 2/1999, 76-77 = The Corning Museum of Glass: New Glass Review 20. // Craft from Scratch. Eine Spur von Handarbeit. 8. Triennale für Form und Inhalte. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt. Frankfurt am Main 2000. // Keith Cummings: Contemporary Kiln-formed Glass. A World Survey. London, Philadelphia 2009. // John Drury: Ever Emerging: Anja Isphording. In: Neues Glas 2/2011, 16-23. // Franz Xaver Höller: Selbstbehauptung und Innehalten. In: Glashaus 1/2001, 18-19. // Anja Isphording: Email-Korrespondenz. Februar und März 2021. // Max Jaquard: The Art of the State – Pâte de verre. In: Glass Network. The Contemporary Glass Society Quaterly Magazine 54/2014, 2-4. // Materials Revisited. 10. Triennale für Form und Inhalt. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt und Klingspor-Museum Offenbach. Frankfurt am Main et al. 2011. // Uwe Mitsching: Glass as Canvas. Glas als Leinwand. In: Neues Glas 3/1996, 44-48. // Glasmuseet Ebeltoft: Ocean. A Look at Marine Life through Glass. Ebeltoft 2013. // Tina Oldknow: Jury Statements. In: The Corning Museum of Glass. New Glass Review 25. Corning 2004, 53-56. // Portrait der Meister. Bayerischer Staatspreis 1952-1994. Preisträger des gestaltenden und technischen Handwerks. Sonderschau der 46. Internationalen Handwerksmesse München 12.-20.3.1994. Texte und Redaktion Peter Nickl. Hg. Verein zur Förderung des Handwerks. München 1994. // Helmut Ricke: Jutta Cuny-Frantz Memorial Award. In: Neues Glas 1/1995, 44-49. // Helmut Ricke: Zugriff. Glaskünstlerinnen heute. Spirited Approach. Women Glass Artists Today. Düsseldorf 2000.

Skulptur: # 115

Achilles-Stiftung