BIOGRAPHIE

Finn Lynggaard


Finn Lynggaard (geb.1930 in Balling, Dänemark – 2011) ist einer der Urväter des europäischen Studioglases. Für die dänische Glasindustrie stehen die Namen Holmegaard und Kastrup. Das Produktdesign dieser beiden zeitweilig eigenständigen, teils fusionierten Glasbetriebe wurde im 20. Jahrhunderts vor allem durch Jacob Bang (1899-1965) und Per Lütken (1916-1998) bestimmt. Ihre Arbeit war auf die händisch arbeitende Glasfabrik und deren Serienproduktion von funktionalem Gebrauchsglas orientiert. Allein Lütken, der von 1942 bis 1998 als leitender Entwerfer das Programm von Holmegaard Glasværk prägte, realisierte dort mehr als 3000 eigene Entwürfe und stieß dabei auch in Grenzbereiche zum künstlerischen Glas vor. Das gilt insbesondere für die seit 1969 gefertigten “Lava-Gläser”, in nasse Tonformen geblasene Glasposten, deren Fertigung in ihrem experimentellen Charakter dem Vorgehen zahlreicher früher Studioglas-Künstler entsprach. Den konsequenten Schritt zum Studioglas, der individuellen künstlerischen Arbeit mit heißem Glas jenseits der Glasfabriken, machte in Dänemark ein anderer zuerst: Finn Lynggaard.

Lynggaard studierte in den 1950er Jahren an der Kunstakademie Kopenhagen zunächst Malerei, bevor er in die Keramik wechselte. Mit phantasievoll gestalteter Gebrauchskeramik und humorvollen Plastiken machte er sich seit der Mitte der 1950er Jahre schnell einen guten Namen. Sein kommunikatives Talent führte ihn seit den 1960er Jahren als Gastdozent in die Keramikwerkstätten verschiedener Kunsthochschulen. Zudem verfasste er mehrere Bücher über keramische Techniken. Einer seiner Lehraufträge führte ihn 1971 nach Kanada ans Sheridan College in Mississauga bei Toronto. Hier war der Keramikdozent Robert Held dabei, das erste Glasprogramm an einer kanadischen Kunsthochschule aufzubauen. Einer von Helds Schülern war Roman Bartkiw (1935-2010), ein alter Freund von Lynggaard, der den Dänen einlud, sich den Glasofen anzuschauen und das Blasen von Glas selbst auszuprobieren. Dieser Versuch hatte unmittelbare Auswirkungen: Zum einen verletzte sich Lynggaard am Nacken, als er mit der Glasmacherpfeife einen heißen Glasfaden weitschweifig durch den Raum zog, der dabei immer länger wurde und sich ihm an den Hals legte. Zum anderen verstand er nun, was der ihm bekannte Amerikaner Joel Philip Myers, der in den 1960er Jahren von der Keramik zum Glas gewechselt war, ihm in Briefen beschrieben hatte: die Faszination an der Arbeit mit dem heißen Glas.

Die Anfänge seiner Arbeit mit Glas schilderte Lynggaard sehr anschaulich: Wie er nach dem Feierabend der offiziellen Kurse die Nächte in der Glaswerkstatt des Sheridan College verbrachte und ihm bei den Versuchen, Glas zu formen, immer klarer wurde, dass er hier genau das Medium fand, wonach er sein ganzes Leben schon gesucht hatte. Es vereint seine Interessen am Umgang mit Farbe, Plastizität und händischer Arbeit in idealer Weise. Vor allem der Arbeitsprozess hatte es ihm angetan: die kurzen Phasen hochkonzentrierten Gestaltens, wenn das Glas sich im formbaren Temperaturbereich befindet, und die sehr schnell erkennbaren Resultate – ganz anders als bei der Keramik mit ihren Trocknungsphasen, dem Roh- und dem Glasurbrand.

Zurück zu Hause baute er noch 1972 in seiner Keramikwerkstatt einen Glasofen, an dem er dann 42 Tage lang arbeitete. Die Ergebnisse waren eher schlecht denn recht, aber doch war von Tag zu Tag ein Fortschritt erkennbar. Es gelang ihm immer besser, den zu formenden Glasposten an der Pfeife zu zentrieren, die Grundvoraussetzung für die Arbeit am Ofen, und auch Punkte und Fäden als Dekoration aufzulegen. Wahrscheinlich weil Lynggaard ein langjähriges, etabliertes Mitglied der dänischen Kunsthandwerkerszene war und die Idee vom neu aufkommenden Studioglas immer stärker ins Gespräch kam, wurde er eingeladen, seine erste “Produktion” im Kopenhagener Ausstellungshaus “Den Permanente” zu präsentieren. Die Ausstellung war ein großer Erfolg und ermunterte ihn, weiterzumachen. Parallel zu seiner keramischen Arbeit experimentierte Lynggaard mit dem Glas. Der Ofen wurde ständig verbessert. Mangels professionellen Rohglases schmolz er Leergut ein, Bier-, Wein- und Whiskeyflaschen. Ein Problem waren die Farben. Aufgrund unterschiedlicher Ausdehnungskoeffizienten konnte er wegen der Gefahr des Reißens während des Abkühlens nicht mit beliebigen unterschiedlich farbigen Schmelzen arbeiten. So setzte er zunächst eine sehr begrenzte Palette von Farboxiden der Keramikfarben ein, bevorzugt ein Kobaltblau. Später lernte er in Malmö einen Vertreter der deutschen Firma Kugler kennen, die farbiges Glas in Form von Zapfen, Granulaten und Mehlen für die Weiterverwendung in der Industrie produziert. Diese Begegnung eröffnete ihm eine neue Welt der Farben. Dem Problem der unzureichenden handwerklichen Fähigkeiten begegnete Lynggaard, indem er regelmäßig sonntags ins schwedische Hyllinge in der Nähe von Helsingborg fuhr. In der dortigen Glashütte gab es einen jungen Glasbläser, Frank Karlgren, der am Wochenende für Touristen das Glasblasen demonstrierte und Gefallen daran fand, den Anfänger aus Dänemark zu unterrichten. So blieb noch das Thema der isolierten Arbeit allein am heimischen Ofen. In den großen händisch arbeitenden Glasfabriken wird mit Teams von bis zu sechs Personen produziert. Das ermöglicht eine erheblich größere Palette an eingesetzten Techniken und Formaten, als es einem einzelnen Glasbläser möglich wäre. Für Lynggaard löste sich dieses Problem durch einen Zufall: Der japanische Student Mutsuo Inoue fragte ihn im Winter 1973/74, ob er bei ihm Keramikdesign studieren könne. Lynggaard hatte sich gerade entschieden, die Doppelbelastung der parallelen Arbeit mit Glas und Keramik aufzugeben und sich ein Jahr probehalber allein auf das Glas zu konzentrieren. Er fragte Inoue, ob er ihm nicht assistieren wolle. So entstand eine achtjährige Zusammenarbeit und eine tiefe Freundschaft.

Das gläserne Werk von Lynggaard begann mit potentiell funktionalen Gebrauchsgegenständen wie Vasen, Schalen und Trinkgläsern, zumeist in einer recht rustikalen Form. Doch schon 1977 zum ersten Coburger Glaspreis hatte er eine unverwechselbare Formensprache gefunden. Als an der Akademie ausgebildeter Maler übertrug er Natureindrücke auf das Glas, das ihm zur Leinwand wurde. Die Wandungen schlichter Gläser versah er in kräftigen Farben und leicht abstrahierten Formen mit Motiven der vier Jahreszeiten, einzelner Blüten oder blühender Wiesen. Mitte der 1980er Jahre hatte er sein Spektrum erweitert: Aus geblasenen bzw. in Sandformen gegossenen Elementen, die zum Teil mit kalten Bearbeitungstechniken weiterentwickelt wurden, sowie aus anderen Materialien baute Lynggaard Stelen, Stühle und thronartige Skulpturen, die bisweilen unter Portalen oder antiken Arkaden positioniert sind, so dass der Eindruck eines Schreins entsteht. In diese Inszenierungen stellte er Motive wie die Mickey Mouse, Engel, eine galante barocke Dame mit einem Füllhorn, Nashörner und Flusspferde, Punker mit Hahnenkamm, ein Schachbrett, eine Banane oder einen einfachen Stein vom Strand. Durch die Überhöhung der Motive hinterfragt er mit einem feinsinnigen Humor unsere oft fetischhaft aufgeladene Welt. Im Katalog zur Ausstellung “Great Danes”, die 2016 im Glazenhuis im Belgischen Lommel zu sehen war, wird Lynggaard bezeichnet als “wahrer, dekorativer Künstler, der im In- und Ausland überaus erfolgreich war und zu einer großen Inspiration für andere wurde”.

Fast mutet es wie ein Widerspruch an: So wenig spektakulär das Werk von Finn Lynggaard auf den ersten Blick wirkt, so überragend ist seine Bedeutung für die Entwicklung des Studioglases. Als er zu Beginn der 1970er Jahre zum Glas fand, gab es in Europa kaum jemanden, der unabhängig von der Industrie arbeitete. In London und Amsterdam waren an der Royal Academy of Arts und an der Rietveld Academie zwar bereits Studiengänge für die Arbeit mit Glas im Aufbau, doch arbeiteten die wenigen Absolventen wie z.B. die Schwedin Åsa Brandt eher isoliert für sich. Von Anfang an ging es Lynggaard ähnlich wie Harvey K. Littleton in den USA darum, Menschen mit Interesse am Glas zusammen zu führen und diese Bewegung durch die Begründung von Ausbildungsprogrammen, Treffen zum gemeinsamen Arbeiten und Austausch sowie Ausstellungen zu fördern. Wie Littleton war er dabei findig und ließ auch bei Widerständen nicht locker. Als er 1975 eine Ausstellung zum weltweiten Aufkommen des Studioglases initiieren wollte winkte der Direktor des Kopenhagener Kunstgewerbemuseums ab. Der Direktor des Einrichtungshauses “Illums Bolighus” sagte gleich zu, und die dort gezeigte Ausstellung geriet zu einer Sensation, die täglich bis zu 10.000 Menschen besuchten. So trug diese Ausstellung viel mehr zur Popularisierung des Studioglases bei, als die bereits 1972 organisierte Präsentation “Glas zwischen Handwerk und Kunst” im Museum Bellerive in Zürich. Lynggaard leitete von 1974 bis 1980 die Glasklasse an der Skole for Brugskunst in Kopenhagen und unterrichtete weltweit im Rahmen von Gastdozenturen. Wie Littelton verfasste auch Lynggaard ein Buch zur Anleitung der Arbeit mit Glas und zum Ofenbau. Als die Gründung einer europäischen Glaskünstlervereinigung wegen des Ausscherens der Engländer, die mit “British Artists in Glass” eine eigene Organisation schufen, ins Stocken geriet, ging von ihm die Initiative für eine skandinavische Lösung aus, die sich in Form der eher informellen “Nordic Glass”- Treffen zwischen 1979 und 1985 als Arbeits- und Austauschmöglichkeiten etablieren konnte. Die Krönung dieser Aktivitäten bestand im Anschluss an Lynggaards Umzug nach Ebeltoft in der Begründung eines internationalen Glasmuseums in der kleinen Ostseestadt. 1986 konnte das Haus mit der Unterstützung vieler ehrenamtlicher Helfer im Beisein der dänischen Königin als ein Künstlermuseum eröffnet werden. Nicht Kunsthistoriker sollten die Ausstellungen kuratieren, sondern die Künstler selber, die zudem Arbeiten als Geschenk oder Leihgabe ans Museum geben sollten und dies in überwältigender Zahl taten. In Sonderausstellungen präsentiert das Museum seitdem wichtige Künstler und Entwicklungen. Es unterstützt aber auch junge Künstler durch den alle zehn Jahr weltweit ausgeschriebenen Wettbewerb “Young Glass”. Lynggaard begann nun auch wieder über Glas zu schreiben: Eine neue Anleitung zur Arbeit mit Glas sowie Aufsätze und Bücher über Künstlerkollegen und die Entstehung der Studioglasbewegung. Beim Lesen dieser Texte wird schnell deutlich, dass es zwar immer um die Sache geht, dabei aber stets der Mensch im Mittelpunkt steht. Ohne den Menschen kann es auch das Werk nicht geben. Entsprechend berührend ist vor allem seine Monographie über den Japaner Kyohei Fujita. Neben diesen internationalen Aktivitäten prägte Lynggaard auch das Geschehen in Dänemark, wo es inzwischen eine überaus aktive Glasszene mit über 200 im Glas tätigen Kreativen gibt, von denen eine ganze Reihe international erfolgreich tätig ist, wie z.B. Tchai Munch, Trine Drivsholm, Karen Lise Krabbe, Lene Bødker, Steffen Dam, Tobias Møhl oder Maria Bang Espersen. Zentren haben sich unter anderem in und um Ebeltoft und vor allem auf Bornholm gebildet, wo sich neben einer Hochschulausbildung für die kreative Glasgestaltung auch seit 2006 die bedeutende Quadriennale “European Glass Context” etabliert hat. In diesem weiten Umfeld hat sich neben dem Ebeltofter Museumsverein “Glasmuseets Venner” mit über 1000 Mitgliedern eine zweite Gesellschaft etabliert, Glasnettet i Danmark, deren Website www.glasnettet.dk über das Glasgeschehen in Dänemark informiert und vor allem Wege zu allen Produzenten weist. All dies wäre ohne Finn Lynggaards Initiativen nicht denkbar. Kein Wunder, dass er als “der große alte Mann des Europäischen Glases” gilt, wie Kyohei Fujita 1994 schrieb.
Uwe Claassen

Skulptur: Pokal

Achilles-Stiftung