BIOGRAPHIE

Richard Craig Meitner


Richard Meitner (geb. 1949 in Philadelphia, PA, USA ) polarisiert mit seinem Werk. Niemand bleibt beim Betrachten der intellektuell wie emotional herausfordernden Arbeiten unberührt. Die einen fühlen sich von den unkonventionell spielerischen und rätselhaften Zusammenstellungen unterschiedlichster, nach gewohnten Begriffen nicht zusammenpassender Motive und Materialien bzw. vorgetäuschter Materialien inspiriert und angezogen – andere finden keinen Zugang und lehnen sie rundweg ab.

Aus einer Familie von Naturwissenschaftlern stammend, am bedeutendsten war Lise Meitner (1878-1968), eine Großtante, die 1938 an der Entdeckung der Kernspaltung maßgeblich beteilig war, wuchs Richard Meitner in einem Umfeld auf, in dem das rationale Argument gepflegt wurde. “Bei meiner Erziehung wurde Wert darauf gelegt, dass ich lerne, die Welt und mich selbst praktisch nur mittels logischer, wissenschaftlicher Analyse zu begreifen.” Aber schon in der Jugend entwickelte sich bei ihm künstlerisches Interesse. Meitner nahm Schauspielunterricht. Mit 19 ging er nach San Francisco und wollte Poet werden. Erst dann fand er zur Bildenden Kunst. Die Kunst öffnete ihm den Weg, eine Welt kennenzulernen, die auf Seele und Emotionen basiert. “Auf diese Weise, so glaube ich, hat die Kunst es mir ermöglicht, damit anzufangen zu einer ‘ganzheitlichen Person’ zu werden.” Die Verbindung von Kunst und Wissenschaft ist zum zentralen Ausgangspunkt von Meitners Denken und Arbeiten geworden. Üblicherweise erklärte Unterschiede zwischen beiden: auf absolute und universale Wahrheit bzw. auf eine persönliche, eher relative und emotionale Ebene zielend, Präzision vs. Vielschichtigkeit, Wissen vs. Glaube, Vernunft vs. Empfindsamkeit nimmt er nicht als Gegensätze wahr, sondern als Ergänzungen, die auf die gleichen Zusammenhänge zielen: “Vielleicht kann gesagt werden, dass Kunst und Wissenschaft Versuche sind, mit sehr unterschiedlichen Methoden die gleichen Wahrheiten zu finden. Beide sind darauf ausgerichtet, mehr über uns selbst herauszubekommen und über das Universum, das wir bewohnen.”

Von 1970 bis 1972 studierte Meitner in Berkeley Kunst in der Glasklasse von Marvin Lipofsky (1938-2016). Nach dem ersten Studienabschluss hatte er den Eindruck, mehr Zeit für das Glas zu brauchen, ging nach Europa und baute seine handwerklichen Fähigkeiten an der Orrefors Glasschule in Schweden aus. Das Studium setzte er 1972 bis 1975 in Amsterdam an der Rietveld Academie fort, deren von Sybren Valkema geleitetes Glasprogramm an amerikanischen Ausbildungen orientiert war und die freie Arbeit förderte. In Amsterdam belegte er auch Kurse für Monumentalkunst an der Rijksacademie van Beeldende Kunst und baute nach dem Abschluss gemeinsam mit Mieke Groot 1976 in Amsterdam eine Glaswerkstatt auf, “General Glass”, die bis heute das Zentrum ihrer künstlerischen Aktivitäten ist.

In den ersten Jahren erfolgte eine intensive Beschäftigung mit der Kunst Japans. Deren Gedanke von streng aufs Einfachste reduzierten Formen kontrastierte er für seine Flakons, Teller und Schalen mit Linien, Punkten, Pfeilen und Zeichen, die in freiem Spiel die Fläche zu erkunden scheinen. Meitner sah hier nicht nur eine Synthese gegensätzlicher visueller Elemente, eines sehr formalen Stils mit freien Elementen, sondern auch gegensätzlicher kultureller Einflüsse. Zu Beginn der 1980er Jahre folgte eine Serie, für die Meitner seine Zeichen, oft Pfeile, in das Innere von schlicht geformten Stelen aus farblosem Glas übertrug. Gelegentlich von Irisschleiern überwölbt, erscheint es, als suchten sie einen Weg, ihre derzeitige Hemisphäre zu durchbrechen und in neue Dimensionen vorzudringen. Durchdringung ist das Thema einer weiteren Serie: Stäbe durchstoßen die Wandung von Gefäßen; eine Ordnung wird durch etwas Fremdes gestört. Nach einer Japanreise begann Meitner, seine Arbeiten mit Emailmalerei zu versehen, Gefäße als Malgrund zu nutzen. Mit einer gegenständlichen Malweise täuschte er in Art des Trompe l’oeil Textilien und andere Materialien vor oder mit Schriftbändern Textblätter. Auch Tierköpfe tauchen auf. Dinge werden so aus ihren vertrauten Zusammenhängen gerissen und in neue Ordnungen gestellt. Als nächstes integrierte Meitner tatsächlich andere Materialien in seine Glasarbeiten, vor allem bemaltes Holz und Metall. Mit einer Serie von Fisch-Motiven thematisiert er wie in Film-Stills die Erfahrung von Zeitabläufen: Ein Fisch taucht in ein Glasgefäß ein, durchdringt im zweiten Still vermeintlich den Boden des Gefäßes und des Podests, auf dem die Arbeit steht, um in der dritten Sequenz wieder zu erscheinen und abschließend als viertes aus dem Glas zu springen (“Violation du Fond”, 1984) oder ein Fisch, halb als lebendiges Tier und halb als Gräte dargestellt, springt in ein Glasgefäß, wobei der Kopf auf das Gefäß gemalt ist (“Memfish”, 1984).

Meitner entwickelte seine Arbeit zu dieser Zeit in schnell aufeinander folgenden Werkgruppen. Manchem Beobachter erschien es, als wenn von Ausstellung zu Ausstellung ein anderer Künstler präsentiert würde. Dennoch gibt es einen durchgehenden roten Faden, den Meitner in seiner Beschreibung des Werks von James Carpenter in einem Reisebereicht über amerikanische Glaswerkstätten andeutete: Carpenters Kunst sei keine Kunst des Materials oder des Objekts, sondern der Idee, die einem talentierten Künstler breiteste Ausdrucksmöglichkeiten biete. Auch Meitners Werk ist eine Kunst der Idee. Im Mittelpunkt steht das Thema der Ambiguität, der Mehrschichtigkeit, wie er niemals müde wird, zu betonen. Indem Meitner in seinen Arbeiten verschiedenste Ordnungen und Kategorien, Inhalte und Materialien aufeinanderprallen lässt, hinterfragt er zum einen die Wahrnehmung des Bekannten, des Erlernten und Vertrauten und gleichzeitig eröffnet dieser Vorgang die Suche nach neuen Bedeutungsebenen: “Ich suche sehr intensiv nach dem, was ich nicht erwarte.” Entsprechend können die Arbeiten als Versuchsanordnungen gesehen werden, mittels derer Meitner mit künstlerischen Methoden und einer wissenschaftlichen Systematik Grenzen überschreitet, um neue Bedeutungsräume zu erschließen. Sein großer Einfallsreichtum spielt mit der intellektuellen wie emotionalen Ebene des Menschlichen und verbindet Tiefgründigkeit mit unterschiedlichsten Ebenen von Humor. Einzelne Versuchsreihen variiert er nicht zu Tode, sondern nutzt neue Erkenntnisse sehr schnell für die nächsten Experimente. So entzieht er sich zudem allen Klassifizierungen, die es den Betrachtern üblicherweise einfach machen, sich ein künstlerisches Werk zu erschließen. Diese Art zu denken und zu arbeiten entspricht einer postmodernen Weltsicht, die vor allem von französischen Philosophen wie Jean Baudrillard (1927-2007), Jaques Derrida (1930-2004) oder Jean-François Lyotard (1924-1998) in eben dieser Zeit in Worte gefasst wurde. Dabei geht es um die Unübersichtlichkeit der Welt und die Erfahrung, dass Objektivität nicht herzustellen ist: Nicht nur die nicht mehr verarbeitbare Menge vorgeblicher Fakten und Meinungen führe ins Subjektive, sondern auch die Erkenntnis, dass es unmöglich sei, Kontext und Bezüge des Verstehens einer sprachlichen oder bildlichen Aussage und damit auch ihre Bedeutung sicher zu stellen. Die Wahrnehmung jedes Rezipienten erfolge aufgrund unterschiedlicher Vorerfahrungen und situativer Bedingtheiten. Die Vielschichtigkeit beginne jedoch schon eher: Wann immer Sprache einen Gedanken ausdrücke, verändere sie ihn. Bereits bei der Formulierung des Gedankens entstehen somit unterschiedliche Bedeutungen. Die Konsequenz daraus ist die Zurückweisung von Vorstellungen der Moderne von universellen Wahrheiten und eines linearen Fortschrittsglaubens aufgrund rationaler Prinzipien. An ihre Stelle rücken ein pluralistisches Weltbild, in dem Grenzen verwischen, subjektive Kriterien und emotionale Sinneseindrücke an Wirkungsmacht gewinnen und die visuelle Sprache der Kunst als Instrument der Erkenntnis aufgewertet wird. Künstler, die in diesem Sinne arbeiten, hinterfragen Wahrnehmung und Identität und thematisieren dabei die Vielschichtigkeit von Bedeutungen.

Um das Jahr 1990 herum kam es zu einer ganzen Reihe von Kooperationen mit Glashütten für Kleinserien, sogenannten Multiples. Meitner konnte nach einer Verletzung nicht mehr selber Glas blasen. Die Zusammenarbeit erst mit Betrieben und später mit Lampenglasbläsern bedeutet jedoch keine Herabsetzung gegenüber den älteren, selbst ausgeführten Arbeiten. Zum einen spielte eine handwerkliche Handschrift keine Rolle mehr für Meitners Kunst der Idee. Und zum anderen bedeutete es eine neue Konfrontation unterschiedlicher Ordnungen: Serie vs. Unikat. Eine neue Qualitätsstufe erreichte das Werk Meitners durch eine Einzelausstellung 1997 im Museum Boerhaave in Leiden. Die Einladung des bedeutenden Museums der Naturwissenschaften und der Medizin, hier seine Kunst zu präsentieren, führte zu einer bewussten Reflektion der Verbindung von Wissenschaft und Kunst im Allgemeinen und der Bedeutung der Arbeit seiner Großtante Lise Meitner auf das eigene Werk im Besonderen. Im Zuge der Vorbereitung entdeckte der Künstler zudem die Möglichkeiten des technischen Glasapparatebaus für seine Arbeit. Dabei werden vor der Flamme eines Gasbrenners Glasröhren zu Retorten und vielfältigsten Präzisionsinstrumenten geformt, die in Laboratorien der Wissenschaft und der Industrie Anwendung finden. Nun erfand Meitner vorgebliche Messinstrumente, die die Liebe eines Menschen zur Wissenschaft messen können (“Amor Scientiae”) oder den Grad der Selbstreflektion (“Introspectrometer”). Ein Kaninchen mit einem aufgebundenen, überdimensionalen, mit einem Davidstern versehenen Reagenzglas ist seiner Großtante gewidmet (“Für Lise”). Den Fortschritt stellte er durch einen mit einer Flamme bekrönten Rundkolben dar, aus dem eine Tierfigur erwächst (“Progress”) und analog zur von seiner Großtante entdeckten Kernspaltung befasste er sich mit den Energie- und Ökologieproblemen unserer Zeit, indem er eine Apparatur konstruierte, in der lebende Fische schwimmen und eine Flamme an einem Docht brennt (“Cold Fusion”, alle Arbeiten 1997).

In den Folgejahren entstand aus abstrakten und gegenständlichen Formen und Motiven ein überbordendes, surreal anmutendes Werk, in dem die Einzelelemente rätselhaft aufeinander stoßen: Tiere, Menschen, Pflanzenwurzeln, technische Apparaturen, Ketten, Wörter, geometrische Grundformen. Mal bestehen sie aus farblosem Glas, mal sind sie farbig bemalt und dann täuscht eine durch den Auftrag von Eisenlösung entstandene dünne Schicht Rost ein ganz anderes Material vor. Eine Serie ist dabei geradezu programmatisch dem phantastischen Roman “Alice im Wunderland” von Lewis Carroll (1832-1898) gewidmet. Beobachter nennen die oft kaum noch entziffer- und deutbaren Objekte “magisch” oder vergleichen ihre Entstehung mit dem geheimen Wirken der Alchemisten vergangener Zeiten. Susanne Frantz weist solche übernatürlichen Analogien zurück, denn das Werk von Richard Meitner befasst sich mit ganz irdischen Dingen: Er “untersucht sein Leben”. Sie bevorzugt Umschreibungen wie “poetisch” oder “theatralisch”. Meitner selbst beschreibt seine Kunst im Interview mit Uta Klotz weniger als ein Produkt seiner Fähigkeiten, sondern mehr als eine Erfahrung: Beim Betrachten oder Schaffen von Kunst treten Bewusstseinsfilter, die im Alltag zwischen dem vermeintlich Wichtigen und Unwichtigen trennen, in den Hintergrund, und alles was wir sehen, denken oder fühlen kann schärfer und intensiver verstanden, erlebt, entschlüsselt und bis zu seinen Wurzeln zurückverfolgt werden. “[…] wenn es mir gelingt, mir diese Freiheit zu nehmen, erlange ich eine viel intensivere und reichere Form von Bewusstsein.” Was sein Werk ihm selbst bedeutet, kann Meitner aber nicht in Worte fassen. Zum einen sieht er Kunst als eine Form von Sprache, die nicht durch Worte erfasst werden kann. “Kunst spricht zu uns und bewegt uns in einer Weise, wie es Wörter nicht können”. Poesie in die Sprache der Mathematik zu übersetzen, würde auch kaum Sinn machen. Zum anderen ist das Werk vielschichtig und insbesondere die in ihm enthaltene Dimension des Unbewussten nicht auslotbar. “Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die spannendsten, fruchtbarsten und inspirierendsten Dinge passieren, wenn ich spüre, dass zwei Dinge zusammenhängen, ich aber nicht weiß, warum das so ist”, so Meitner. Und dann verweist er auch gern auf die Episode aus einem Buch von Carlos Castaneda, in der der indianische Schamane seine Schüler lehrt, dass, um eine Sache im wahrsten Sinne des Wortes klar zu sehen, es wichtig sei, diese Sache nicht direkt anzuschauen. Um eine Sache zu sehen, müsse man lernen, seinen Blick davon zu lösen.

Was bedeutet das für das Werk von Richard Meitner und seine Rezeption durch andere Menschen? Sind die in ihrer Tiefe und Vielschichtigkeit nicht erschließbaren introspektiven Äußerungen eines Einzelnen nur der Ausdruck von Beliebigkeit? Meitner meldet sich immer wieder zu Wort, nicht um einzelne Arbeiten oder Werkgruppen zu erklären, sondern sein Vorgehen und seine Überlegungen dazu zu schildern. Als Höhepunkt kann dabei seine 2016 abgeschlossene Dissertation gesehen werden. Sein Werk und seine Texte zielen auf die gleiche zentrale Idee: “die Art, wie Menschen Kunst sehen, sie unterrichten und über sie denken, zu verändern”. Dabei formuliert er keine klaren Botschaften oder Vorschläge wie andere Menschen denken und fühlen sollten, sondern verweist auf die Ambiguität als eine eigene Qualitätsebene. Schon als Lehrer an der Rietveld Academie besaß er die Fähigkeit, seinen Studenten den Spiegel vorzuhalten, damit sie sich aus eigener Kraft entwickeln konnten. Die beiden Kernpunkte waren dabei die Fragen nach der Qualität und dem, was man sagen wolle, wie seine Schülerin Katrin Maurer die Situation beschrieb. Es ist der offene Diskurs eines postmodern verstandenen Miteinanders gleichberechtigter Menschen, in den jeder Einzelne mit seinem persönlichen Schatz an Prägungen, Fähigkeiten und Erfahrungen sich einbringen kann, seine eigenen persönlichen Resultate daraus zieht, aber eben auch an der Verhandlung dessen, was als gemeinsamer Horizont gelten soll, sich beteiligt. Beiträge zu diesem Diskurs sind nicht beliebig, sondern entspringen, egal wie tiefgründig oder absurd sie anderen vorkommen mögen, einem persönlichen Erfahrungsraum. Das künstlerische Werk von Richard Meitner kann als ein solcher durchdachter, kalkulierter und bewusst gesetzter, Beitrag verstanden werden. Durch seine Kunst präsentiert er die Themen, mit denen er sich intellektuell und emotional befasst. Ob und wie sie aufgenommen und weiter gedacht werden liegt jedoch nicht in seiner Hand, sondern in der Bereitschaft der Rezipienten, selbst aktiv in den Diskurs einzusteigen. Den Erfolg seiner Arbeit liest Meitner unter anderem auch an Antworten auf die Frage ab, ob seine Beiträge für andere hilfreich sind. Ist die Antwort ja, kann er sich aber nicht sicher sein, ob man inhaltlich übereinstimmt. Ist sie nein, war er eindeutig nicht erfolgreich. Am sichersten fühlt er sich bei der Antwort: “Ich weiß es nicht”. Es ist die Antwort, die am ehesten den Raum der Ambiguität als Kern von Meitners Kunst der Idee offen hält.
Uwe Claassen

Achilles-Stiftung