BIOGRAPHIE

Joel Philip Myers


Joel Philip Myers (geb. 1934 in Paterson, NJ, USA) gilt gemeinhin nicht als einer von „Littletons Boys“. Gewiss: er hat keine Ausbildung beim Vater der amerikanischen Studioglas-Bewegung absolviert. Aber ohne Harvey K. Littleton wäre auch Myers nicht zum Glas gekommen. Als Grafik-Designer in der Werbebranche begeisterte er sich in den 1950er Jahren für skandinavisches Design, das damals führend in der Welt war. Er ging 1957 bis 1958 für eine Keramik-Ausbildung nach Kopenhagen, wo er seine spätere Frau Birthe kennenlernte. Zurück in den USA studierten beide in Alfred Keramik. Nach dem BFA-Abschluss 1963 setzte Myers sein Studium für ein Master-Examen fort: Er wollte Keramik-Dozent an einer amerikanischen Universität werden. Und nun kommt Littleton ins Spiel. Myers hatte von den Toledo-Workshops 1962 gehört und die begeisterten Berichte darüber und über die Gründung des ersten universitären Ausbildungsprogramms durch Littleton gelesen. Auch der Leiter der Kunstabteilung an der Universität in Alfred, Ted Randall, war neugierig geworden und wollte sehen, was für eine Substanz in diesen Ideen steckt. Er vermittelte Myers das Angebot, 1963 als Designdirektor zur Blenko Glass Company zu gehen, und sagte ihm zu, dass er auch mit selbst geblasenem Glas seinen angestrebten Abschluss erreichen könne. Ohne zuvor je mit der Produktion von Glas in Kontakt gewesen zu sein, schaute Myers sich die noch handwerklich-manufakturmäßig in Sechser-Teams arbeitende Hütte an und war sofort überwältigt. Er war überzeugt, hier das Glasblasen erlernen zu können und sagte die Stelle zu, noch ehe er das kreative Potential von Glas voll erkannt hatte, weil er an das glaubte, was Littleton begonnen hatte: die individuelle künstlerische Arbeit mit heißem Glas. In der Hütte beobachtete er die Glasbläser bei ihrer Arbeit und schaute sich ihre Arbeitstechniken ab, die er in den Mittagspausen und nach Feierabend selbst ausprobierte und einübte. Nach zwei Jahren war er so weit, dass er das Glas kontrollieren konnte und erkundete traditionelle geblasene Kugel- und Gefäßformen, bevor er zu den skulpturalen Formen seiner „Dr. Zharkov“-Serie überging. 1970 verließ er Blenko, um an der Illinois State University in Normal ein Glasprogramm aufzubauen. Hier war er bis 1997 als Professor tätig.

Das Werk von Myers kann in drei Phasen geteilt werden. Zuerst war er stark skulptural orientiert. Die kleinen Formate des frühen Studioglases überwand er mit der „Dr. Zharkov“-Serie, indem er mit Lüstermalerei versehene Glaskugeln aufschnitt und sie zu großen abstrakten Skulpturen miteinander verklebte. Zu Beginn der 1970er Jahre begann er, mit Kugler-Farben zu arbeiten und erprobte sie in seiner berühmten Serie von tanzenden Händen. Über Flakons und Zylindervasen entdeckte er als ausgebildeter Grafik-Designer dann die Gefäßwandung als eine Fläche für grafische Gestaltungen. Auf der Suche nach künstlerischer Erneuerung führte ihn ein Sabbatjahr 1976/77 in das neue Lobmeyr-Studio in Baden bei Wien. Die winterlichen Weinreben inspirierten ihn zu seiner „Vineyard“-Serie: weiße Zylindervasen mit abstrahierten Reben aus aufgeschmolzenen und eingewalzten Glasfäden.

Nun begann die zweite Werkphase, die Zeit der „Contiguous Fragments“: Myers entwickelte dickwandige Gefäßformen, die er abflachte und bisweilen auch in die Länge walzte und zog, so dass auf der Vorder- und Rückseite große Flächen für grafische Gestaltungen entstanden. Diese Flächen belegte er mit Glasfäden und vorbereiteten Glasscherben, die mit dem Handbrenner aufgeschmolzen wurden. Das zunächst opak-undurchsichtige weiße oder schwarze Grundglas ersetzte er durch farbloses Glas mit einem farbigen Unterfang, das dort, wo es keine Farbauflagen trägt, meist mattiert ist. Vorder- und Rückseite durchdringen sich nun schemenartig. Bisweilen sind die Objekte oben aufgeschnitten, so dass der Blick durch die polierte Schnittfläche in die Wandung hinein fällt. Die Farben scheinen so zu schweben. In diesen Arbeiten entfaltet sich „das große Talent Myers’ als Kolorist, Plastiker und abstrakter Künstler“, es sind „kraftvolle Statements über Farbe, Licht und Form“, wie Dan Klein schrieb. Wie ein abstrakter Maler hat Myers hier gearbeitet, nur dass er statt eines Pinsels und Tubenfarben farbige Glasscherben und einen Handbrenner nutzte. Entstanden sind die Arbeiten in einem spontanen, intuitiven Arbeitsprozess, oft inspiriert von den Landschaften um den dänischen Limfjord, wo die Myers von 1982 bis 2005 viele Sommer im eigenen Haus verbrachten.

Zu Beginn der 1990er Jahre unterbrach Myers seine künstlerische Produktion. Er las viel und entwickelte noch einmal eine völlig neue Formensprache: Unregelmäßig und in verschiedenen Schrägen segmentierte formgeblasene Röhren aus mattiertem Glas klebte er neu zusammen. Mehrere solcher Gebilde sind zu Ensembles zusammengefügt, die mit ihren sich einander zu- und abwendenden Positionen menschliche Eigenarten und Verhaltensweisen in abstrakt-universeller Weise reflektieren.
Uwe Claassen

Achilles-Stiftung