BIOGRAPHIE

Dalibor Tichý


Dalibor Tichý (geb. 1950 in Kolín, Tschechoslowakei – 1985) und sein Werk nehmen im tschechoslowakischen Glas eine Ausnahmestellung ein. Nach einer Ausbildung mit dem Schwerpunkt Glasmalerei an der Glasfachschule Kamenický Šenov von 1956 bis 1970 ging er nach Prag in die Glasklasse von Stanislav Libenský an der Hochschule für Angewandte Kunst. Während seines Studium zwischen 1970 und 1976 kam er mit allen in den 1970er Jahren aktuellen Gestaltungsformen in Kontakt: mit dem in der individuellen Kunst vorherrschenden Schnitt und Schliff von optischem Glas, mit den bei architekturbezogenen Arbeiten verbreiteten Formschmelzverfahren, mit den klassischen Hüttentechniken und auch die Glasmalerei konnte er vertiefen. Aufsehen erregten seine Entwürfe für schlichtes Gebrauchsglas mit gemalten Dekoren. Und auch seine Entwürfe für geschliffene Schalen, Aschenbecher oder Vasen fanden große Aufmerksamkeit, weil er die Technik nicht zur Gestaltung eines Dekors einsetzte, sondern als Mittel der Formgebung. Kein Wunder, dass er nach dem Abschluss seines Studiums 1977 gleich eine Anstellung als Gestalter für Gebrauchsglas bei Crystalex fand.

Tichýs besondere Stellung im Glas der ČSSR beruht jedoch auf künstlerischen Arbeiten, die er bereits während seines Studiums zu entwickeln anfing und neben der Gestaltung von Gebrauchsglas weiterführte. Seine Skulpturen sind gestalterisch und technisch ohne Vorbild. In eine schlichte Form gegossenes Glas bildet einen massiven Sockel, aus dem Tichý mit eigens von ihm entwickelten Werkzeugen aus dem noch heißen und zähflüssigen Material Stränge herauszog. In der kurzen Zeitspanne zwischen dem zu flüssigen und festen Zustand des Glases formte er von Naturformen inspirierte abstrakte Skulpturen: die Fontäne eines Geysirs, die Flügel eines Vogels, im Wind sich wiegende Gräser und Bäume, Blüten, Korallen oder loderndes Feuer. Aus dem Kontrast des massiven Sockels zu den gezogenen fragilen Fäden und Schäften, von großer Masse zu subtiler Feingliedrigkeit, von Statik zu organischem Wachstum erwächst diesen Arbeiten ihre tiefgreifende poetische Kraft. „Im hüttengezogenen Glas ging es mir um den eigentlichen Sinn des Lebens, um Freiheit, Phantasie, Suchen und Kennenlernen der grundlegendsten Gesetzmäßigkeiten und manchmal auch um ihr Finden. Ich lebe mit diesem Glas und gestalte vielleicht auch meine eigene Philosophie“, so Tichý.

Aufgrund der Auswirkungen einer schweren Erkrankung wechselte Tichý die Schwerpunkte seiner Arbeit. 1980 verließ er Crystalex und stellte seine individuelle künstlerische Arbeit in den Vordergrund. Als freier Mitarbeiter entwarf er in geringerem Umfang weiter Gebrauchsglas für sein altes Unternehmen. Da die Arbeit in der Hütte zu anstrengend geworden war, verfolgte er nun verstärkt eine zweite künstlerische Linie. Er schnitt mit dem Rädchen dünne Glastafeln zu, die entweder horizontal geschichtet oder in flachen Holzkästen hintereinander gereiht sind. In die einzelnen Tafeln sind häufig Kreise und/oder Dreiecke gerissen, die sich in der Durchsicht zu dreidimensionalen Räumen erheben. Mit diesen „Architekturen“ und ihren Kontrasten zwischen exakter Geometrie und rauen, ungeschliffenen Kanten, zwischen dem warmen Holz und dem kalten Glas verband Tichý die Vorstellung, eine „strenge, präzise, aber gleichzeitig „menschenfreundliche“ Form zu schaffen“.
Uwe Claassen

Achilles-Stiftung