BIOGRAPHIE

Toots Zynsky


Mary Ann Zynsky , die seit ihrer Kindheit nur „Toots“ genannt wird (geb. 1951 in Boston, MA, USA) wollte ihr frisch begonnenes Studium an der Rhode Island School of Design (RISD) nach der Orientierungsphase schon wieder abbrechen: Sie fand kein Hauptfach, das sie wirklich ansprach. Ihre Entscheidung revidierte sie aber, nachdem sie durch Zufall auf das neu eingerichtete Glasstudio stieß, das noch gar nicht eigenständig im Programm der Schule stand und der Keramik zugeordnet war. Es war die Findungsphase der Studioglasbewegung am Ende der 1960er Jahre. Die ersten Schüler von Harvey K. Littleton begründeten eigene Glasprogramme. An der RISD war es Dale Chihuly, der, wie damals üblich, weniger Wert auf handwerklich-technische Fähigkeiten legte, als vielmehr mit seinen Studenten mit großer Neugier die Möglichkeiten des für die Kunst neu entdeckten Materials Glas experimentell erkundete: Es gab keine Regeln und alles schien möglich. Von dieser Aufbruchstimmung begeistert, blieb Toots Zynsky. An der RISD und in der Gründungsphase der Pilchuck Glass School, bei der Dale Chihuly von einer Gruppe seiner Studenten unterstützt wurde, arbeitete sie mit zahlreichen Glastechniken, vom Glasblasen bis zum Absenken von Flachgläsern. Sie setzte diese Gläser zusammen mit anderen Materialien in Installationen ein und begann mit Buster Simpson, mit Videos und Performances zu experimentieren, die Verarbeitungsprozesse von Glas thematisieren.

Mitte der 1970er Jahre entfernte sich Zynsky vom Glas. Sie arbeitete nun künstlerisch mit Textilien, Licht, Draht und Stacheldraht. Vor allem der Stacheldraht, den sie als „kraftvolles Symbol des Versagens von Menschlichkeit“ ansah, wie Tina Oldknow berichtet, wurde wichtig für sie. 1980 fand sie am New York Experimental Glass Workshop zurück zum Glas. Zynsky wollte die Stacheldraht-Thematik mit dem Glas verbinden und begann, Gefäße mit Glasfäden zu umspinnen. Aus diesem Hintergrund heraus wurde sie 1983 eingeladen, Entwürfe für Venini zu entwickeln (siehe den Eintrag Venini). In New York begann sie zudem eine neue Arbeitsweise: Mit ihren Assistenten zog sie haardünne Glasfäden, die sie kalt zusammenlegte und in einem Muffelofen zu schalen- bzw. vogelnestartigen Skulpturen verschmolz. „Filet de verre“ nennt Zynsky diese Arbeitsweise. Der Begriff ist ein Wortspiel und verbindet die französischen Wörter „pâte de verre“ (eine Glastechnik) mit „fil“ (Faden) und „filet“ (aus der Küche).

Mit dieser Arbeitsweise entwickelte Toots Zynsky in den folgenden Jahren eine unverwechselbare Formensprache. Ein Bekannter aus den Niederlanden hatte ihr eine Maschine zum Ziehen der Fäden konstruiert und einen transportablen Glockenofen zu ihrem Verschmelzen und zum Formen der Objekte. Aus dem für drei Wochen geplanten Arbeitsaufenthalt in Europa bei Venini wurden 16 Jahre, die Zynsky überwiegend in Amsterdam und Paris verbrachte. Wichtig wurde auch eine halbjährige Reise 1984/85 nach Ghana, bei der sie traditionelle afrikanische Musik erforschte. Musik ist ein wichtiger Zugang zum Werk von Zynsky: „Wenn ich Musik höre, übersetzt sie sich mir in Farbe“ sagt sie. Auch die Farben und Muster afrikanischer Textilien beeinflussten sie stark. Wie bei den Linien einer Zeichnung oder den Pinselstrichen eines Gemäldes legt Zynsky Glasfaden zu Glasfaden. Im vielschichtigen Neben- und Übereinander der Fäden entstehen Farbkompositionen, die erst zu einer Platte verschmolzen und dann über Hohlformen zu Gefäßen abgesenkt werden. In einem letzten Schritt hebt Zynsky die Wände des Glockenofens an und modelliert, durch Spezialkleidung geschützt, mit den Händen die wellen- oder faltenartige finale Gestalt ihrer Objekte. Formal sind es sich in einer kontinuierlichen Entwicklung vollziehende Erkundungen von Farbe und Komposition, die im Zusammenhang mit dem abstrakten Expressionismus stehen.

Nach einer langen experimentellen Findungsphase hat Toots Zynsky zum Glasgefäß und seiner künstlerischen Gestaltung gefunden. Das geschah in einer Zeit, in der das Gefäß als das genaue Gegenteil von kritischer, aufwühlender Kunst galt, als bestenfalls schönes, kunsthandwerkliches Gebrauchsobjekt. Solche Debatten langweilen Zynsky nur. Schönheit ist für sie eine sehr individuelle Frage, und das Gefäß sieht sie als vermutlich älteste Kunstform der Menschheit, deren Gestaltungsmöglichkeiten sich exponential vergrößern. Ihre frühen Filet de verre-Arbeiten vereinen viele Farben und wurden gelegentlich mit dem Gefieder exotischer Vögel verglichen. In den letzten Jahren ist die Farbpalette an modulierenden Tönen von Anthrazit, Grau, Rot und Bernsteinfarben orientiert. Der Aufbau der Arbeiten aus vielen Glasfasern verursacht, dass die Wände wie in Schwingung versetzt wirken. „Man empfindet Bewegung, wo keine da ist, man hört Musik, wo Stille herrscht. Dies ist die Magie und Wirklichkeit von Toots Zynsky“, wie Dan Klein diese Arbeiten beschreibt.
Uwe Claassen

Achilles-Stiftung